Mittwoch, 13. März 2024

In den Brunnen gefallen

  

 © Jutta M. Jenning/ www.mjpics.de

 Ich erinnere mich genau an den Tag, als es geschah.
›Jeden Sonntag ging ich mit meiner Mutter und meiner achtjährigen Schwester zum Friedhof, um Großvaters Grab zu besuchen. Es war seit zwei Jahren ein festes Ritual. Heute war ein schöner Sommertag, die Blumen auf dem Grab benötigten Wasser. Quirlig und lebendig, wie ich mit meinen sechs Jahren nun mal war, ergriff ich das Eimerchen und spazierte voraus.
 »Mama, ich gehe zum Brunnen«, sagte ich.
 »Bleibe vom Wasser weg, ich komme nach!«, rief sie.
Meine Schwester blieb an Mamas Seite. Sie war das ruhigere Kind von uns beiden. Ich stand vor dem Brunnen und schaute ins Wasser, das bis zum Rand reichte. Mein Gesicht spiegelte sich darin. Etwas Wasser schaufeln kann nicht schaden, dachte ich, nahm mein Eimerchen, beugte mich über den Rand und tauchte es hinein. Unter mir befand sich eine Pfütze. Wie könnte es anders sein? Ich rutschte, bekam das Übergewicht und schon ging es kopfüber in den Brunnen. Ich sah mit geöffneten Augen, dass ich mit dem Kopf im Eimer streckte. Meine Mutter, die mir nachgeeilt war, bekam einen Schock, als sie meine Füße aus dem Brunnen herausragen sah, wie sie später erzählte. Nun gut, sie rettete mich. Ich bekam das Kleid meiner Schwester, sie ging in Unterwäsche nach Hause.
 »Das Kind war mindestens zwei Minuten unter Wasser und kann unmöglich etwas gesehen haben«, meinte später ein Arzt. »Es sei denn, sie steckte in einer Luftblase. Dennoch ein Wunder, dass sie nicht ertrunken ist. Sie hatte einen Schutzengel«, sagte er.‹
Seitdem meide ich tiefe Gewässer, bis heute.

©Rita Hajak





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