Freitag, 19. Januar 2024

Fenster zum Innenhof

 

Täglich sitze ich in meinem Rollstuhl am Fenster und schaue hinaus. Kläglichen Schreie, jeden Tag, belasten mich, aber ich weiß nicht, woher sie kommen.  Die hellen Schreie, vermutlich von einem Kind, bereiten mir Sorgen. Ich beschließe, die Angelegenheit morgen der Polizei zu melden. Sie werden mich für verrückt halten, aber das ist mir egal. Pflicht ist Pflicht, basta!  
In diesem schrecklichen Haus gibt es nur Fenster zum Innenhof. Heute scheint die Sonne. Wie immer sitze ich an meinem Platz und schaue den Vögeln zu, wie sie Brotkrümel aufpicken, die sicherlich die kleine Sabine hingeworfen hat. Mein Blick wandert an der mir gegenüberliegenden Häuserwand entlang, verharrt im ersten Stock an einem Fenster. Ich sehe ein Kind und einen Mann, der sich hinter sie stellt, es an den Haaren packt, und nach hinten reißt. Schreie folgen, ich erkenne sie wieder. Es sind die gleichen, die ich immer höre. Etwas geschieht in dieser Wohnung, was nicht sein darf. Ich habe Angst. In diesem Moment zerschellt Glas. Die Schreie werden lauter, qualvoller, dann ist es still.
Eine gefährliche Stille. Ich kann nicht warten, bis mein Mann nach Hause kommt, ich muss handeln. Sofort. Ich greife nach dem Handy, das ich immer bei mir trage, und wähle die 110. Stotternd berichte ich, was ich gesehen und gehört habe. Der Polizeibeamte verspricht, eine Streife vorbeizuschicken. Ich bin müde, hieve mich ins Bett.
Als mein Mann nach Hause kommt, wache ich auf.
»Hallo, Liebes, hast du schon gehört?«, fragt er, »in der gegenüberliegenden Wohnung ist ein Vater verhaftet worden, der seinem Kind sehr wehgetan hat.« Ich nicke und denke: Gott sei Dank, dass ich endlich gehandelt habe.

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