Samstag, 11. November 2023

Ein Herzenswunsch

 


 

Seit dem Tod meiner Frau sitze ich Tag und Nacht am Fenster und starre hinaus, höre den Uhu-Rufen zu, die mich faszinieren. Sie fliegen vorbei, werfen mir einen kurzen Blick zu, mit ihren weit geöffneten leuchtenden Augen. Uhu, erklingt es in meinen Ohren. Es hört sich an, wie eine wunderschöne Melodie. Eines Abends, ich sitze wie gewohnt auf meinem Lieblingssessel am Fenster, flattert eine Eule direkt auf mein Fensterbrett. Seit einer Weile fallen dicke Flocken vom Himmel herab. Sie lässt sich sacht auf dem Schnee nieder, mit dem sie fast eine Einheit bildet. Meine Augen sind nicht mehr die Besten, deshalb beuge ich mich nach vorn, um das Federtier in Augenschein zu nehmen. Es ist eine Schnee-Eule und wunderschön weiß, mit kleinen dunklen Tupfen, gefedert. Sie schaut mich mit goldgelben Augen an. Ich öffne das Fenster und strecke behutsam meine Hand nach ihr aus und staune. Sie sitzt wie angewurzelt und bringt ein zartes »Uhu« hervor. Zärtlich streichele ich ihr über die Federn. Zart und flaumig fühlen sie sich an.
  »Du bist aber zutraulich«, flüstere ich.
  »Uhu, Uhu, Uhu.« Es hört sich an, wie: »Meine Zeit ist bald um. Ich bin sehr alt.«
  Erschrocken ziehe ich die Hand zurück. »Du stirbst bald?«, frage ich mit bebender Stimme. Sie beugt, wie zu einem ja, den Kopf herunter. »Uhu, so ist das Leben.«
»Du kannst sprechen?«, frage ich verstört.
»In der Tiersprache, aber du bist mir sehr ähnlich und ein guter Mensch, deshalb verstehst du mich. Meine Pause ist um, ich muss weiter. Wir sehen uns. Uhu.« Mit Tränen in den Augen schaue ich ihr hinterher. Gerne hätte ich sie begleitet, aber wie?

Jeden Abend warte ich vergeblich auf ein Zeichen meiner gefiederten Freundin. Das Weihnachtsfest steht vor der Tür. Für mich hat es jeden Sinn verloren, seit meine liebe Frau nicht mehr lebt. Mein Appetit lässt nach, ich werde immer schwächer, bin fast neunzig. Trinke morgens meinen Kaffee und tunke einen Weck hinein. Mehr brauche ich nicht. Auch die Suppe oder das Gemüse, das die Nachbarin mir manchmal bringt, nehme ich nicht mehr an. Meine Gedanken kreisen nur noch um die Eule. Abgemagert sitze ich, wie immer, in der Dunkelheit in meinem Sessel, am offenen Fenster. Es ist kalt, aber ich spüre es nicht. Es schneit ohne Ende. Plötzlich der Ruf: »Uhu, Uhu, ich komme.«
  Zitternd ersehne ich ihre Gestalt, als sie sich endlich auf der Fensterbank niederlässt. »Ich habe lange nichts von dir gehört. Du bist doch nicht krank?«, frage ich.
  »Uhu, wenn Altersschwäche eine Krankheit ist, bin ich sehr krank. Ich hatte einiges zu klären. Wie geht es dir? Du siehst abgemagert und resigniert aus. Was ist los.« Die Eule schaut mich mit liebevollem Blick an. Das Gelb ihrer Augen leuchtet.
  »Ich habe dich vermisst, möchte so gerne mit dir durch die Nacht fliegen. In deiner Nähe fühle ich mich wohl«, flüstere ich.
  Die Eule trippelt näher an mich heran. Mein Gesicht ist inzwischen so spitz wie der Schnabel meiner Freundin. Sie kommt immer näher, blickt in meine Augen. Mir wird so leicht. Ich spüre, wie meine Arme sich heben und mit Federn bekleidet sind. Dann sitze ich auf der Fensterbank, neben meiner Freundin.
  »Uhu, was ist geschehen?«, keuche ich.
  »Deine Zeit ist gekommen, du wolltest gerne eine Nachteule sein. Das ist mein Weihnachtsgeschenk. Ich habe deinen Wunsch erfüllt. Komm, lass uns eine Runde fliegen.«
Die Eule schubst mich an und augenblicklich hebe ich die Flügel. Beide flattern wir umher und schreien vor Freude.
  »Ich bin eine Eule, juchhe«, plärre ich in die Heilige Nacht. Auf einem Baum machen wir Halt. »Wie lange kann ich leben?«, will ich wissen. 
  »So lange du deinen Traum träumst. Tage, Wochen, Monate oder auch Jahre. Ich werde dich in dieser Zeit begleiten.«

Der Stuhl an meinem Fenster ist, nun verweist. Nach wundervollen Tagen und Nächten fällt meine Freundin tot vom Baum. Kurz danach folge ich ihr. Mein Traum ist geträumt.

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