Freitag, 24. November 2023

Abschied

 

Bildquelle: Pixabay


Der große Spiegel in der Garderobe zeigt ein erschöpftes Gesicht. Mein Gesicht. Es hilft nichts, die Fältchen, Flecken und Unregelmäßigkeiten müssen weggeschminkt werden. Henrike, die mich fast immer begleitet, richtet mich gekonnt her. Nun noch das schwarz-weiße Kleid, die Pumps, die Kette und die Ohrringe. Gleich beginnt das Konzert. Ich spiele die erste Geige. Ich bin stolz darauf, aber nicht überheblich. Im Laufe der Jahre habe ich mich daran gewöhnt. Inzwischen bin ich fünfundsechzig Jahre alt und werde zurücktreten. Meine Enkelin habe ich in den siebzehn Jahren ihres Lebens zehnmal gesehen. Wir telefonieren zwar regelmäßig, auch per Bild, aber das ist etwas anderes. Die Nähe, der körperliche Kontakt fehlt. Gerne möchte ich noch einige Jahre mit meiner Familie verbringen. Die vielen Konzerte haben mich ausgelaugt. Anfangs hat mich mein Mann begleitet, dann wurde es ihm zu viel. Vor vier Jahren ist er verstorben. Ich fühle mich alt, verbraucht.
  »So, fertig«, höre ich Henrike sagen.
Ich schaue kurz auf und erblicke eine veränderte Frau. Zurechtgemacht, nicht echt. Alles muss ein Ende haben. Heute ist mein letzter Auftritt. Ich habe es nur meiner Tochter verraten.  Ich möchte meine Enkelin, die in wenigen Tagen ihren 18. Geburtstag feiert, überraschen.
  Der Konzertmeister blickt in die Kabine. »Alles gut bei dir?«
Ich nicke. Es ist so weit. Ich begebe mich in den Konzertsaal an meinen Platz und nehme meine geliebte Geige zur Hand. Ein letzter, lächelnder Blick ins Publikum, da erhebt der Dirigent den Taktstock. Die Musik erklingt. Ich schwinge den Bogen, verliere mich, wie im Trance, spiele göttlich, wie nie zuvor. Ein letztes Mal.

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