Sonntag, 10. Dezember 2023

Eine Weihnachtsgeschichte - Ein unerwarteter Gast

 

Wie ein drohender Schatten legte sich die Dunkelheit über die kleine Stadt am Fuße des Taunus. Ich war die Letzte, die den Friedhof verließ. Der Friedhofswärter wünschte mir ein erholsames Wochenende und schloss hinter mir leise das Tor. Es schneite seit mehreren Stunden und rundherum war alles mit feinem glitzerndem Schnee bedeckt. 

Keine Menschenseele war auf der Straße zu sehen. Ich hatte das Gefühl, außer meinen Schritten knirschten noch andere im Schnee. Mit klopfendem Herzen drehte ich mich um; es war niemand zu sehen. Zügig ging ich nach Hause, an den Häusern entlang, hinter deren Fenster warmes Kerzenlicht flackerte. Weihnachten stand vor der Tür. Ich würde es das erste Mal ohne meinen Mann feiern. Das Schicksal hatte grausam zugeschlagen. Benjamin war von einem Einsatz in Afghanistan nicht zurückgekehrt. Der Heilige Krieg war ihm zum Verhängnis geworden. Seine Asche war das Einzige, was mir geblieben war. Neun Monate sind seitdem vergangen und meine Seele weinte. Ich stand vor unserem Haus mit dem Walmdach und dem wunderschönen Garten, der unter einer weißen Schneedecke verborgen war. Sieben Jahre waren wir zusammen und hatten vor zwei Jahren geheiratet. Nach diesem Einsatz wollten Benjamin und ich eine Familie gründen. Wir wünschten uns Kinder. Dieses Weihnachtsfest sollte für uns die neue Zukunft sein. Nun bin ich mit dreißig Jahren Witwe. Ich zuckte zusammen. Rief da nicht jemand meinen Namen? Leise aber deutlich? Meine Pupillen weiteten sich und suchten die Gegend ab. Keiner war da. Ich träumte mit offenen Augen und dachte ständig an Benjamin.
  Wärme schlug mir entgegen, als ich die Haustür öffnete, aber in meinem Inneren blieb es kalt. Ich bereitete mir einen Tee, setzte mich mit der Tasse in der Hand an das Küchenfenster, und träumte vor mich hin. Eine Stimme flüsterte mir zu: ›Hab keine Angst, ich bin bei dir, für alle Zeit in deinem Herzen‹. Es war Benjamins Stimme. Mein Kopf kippte nach vorn, ich riss die Augen auf. Um mich herum war es finster. Die Kerze auf dem Tisch war heruntergebrannt.

 
Am nächsten Tag war Sonntag, die letzte Möglichkeit den Weihnachtsmarkt zu besuchen. Sollte ich allein nach Frankfurt fahren? Wie wir es jedes Jahr getan hatten? Mich zu entschließen, fiel mir nicht leicht, aber ein innerer Zwang trieb mich vorwärts. In Gedanken sprach ich mit Benjamin und erzählte ihm von den Buden und Ständen, von der Dekoration und der weihnachtlichen Musik. Von den verschiedenen Gerüchen nach Lebkuchen, Zimt und Anis, die sich ineinander vereinten und uns jedes Mal in eine feierliche Stimmung versetzt hatten. Heute verfehlten sie ihre Wirkung. Freudlos bewegte ich mich über den Weihnachtsmarkt. Ich hörte Kinder lachen und drehte mich nach ihnen um. Sie umzingelten den Weihnachtsmann, der Süßigkeiten verteilte. Es war ein schöner Anblick, der mir die Tränen in die Augen trieb. In diesem Moment hob der Weihnachtsmann den Kopf, schaute mich an und winkte mich herbei. Leute blickten zu mir. Ich trat näher, ohne es zu wollen. Er reichte mir eine Tafel Schokolade und sagte, mit angenehm mitfühlender Stimme: »Jeder Kummer vergeht, es dauert nur eine Weile.«
  »Danke«, sagte ich, nahm die Schokolade und ging rasch weiter. Ich hätte nicht hierherkommen dürfen, ging es mir durch den Kopf, als ich am Glühwein-Stand vorbeiging. Hier hatte ich mit meinem Mann stets ein Gläschen getrunken. Unschlüssig stand ich davor, als mich eine Stimme ansprach, die mir bekannt vorkam. »Sie sollten ein Glas Glühwein trinken, es wärmt den Körper und die Seele. Sie sind doch mit der Bahn gekommen, oder?«
  Ich nickte und schaute in zwei strahlend blaue Augen. »Hallo, Weihnachtsmann, haben Sie Feierabend?«, fragte ich und rang mir ein Lächeln ab.
  Er nickte. »Ich stehe den ganzen Tag in der Kälte. Jetzt benötige ich mein warmes Zuhause. Zuvor trinke ich ein Gläschen. Sie auch?«
»Gerne.«
  »Geht es Ihnen besser?«, wollte er wissen. »Danke, es muss weitergehen.«
  »Haben Sie einen lieben Menschen verloren?«, fragte er vorsichtig.
Er wirkte so vertraut, dass mein ganzer Kummer aus mir heraussprudelte. Er hörte mir aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen.
  »Entschuldigen Sie, nun habe ich ununterbrochen geredet und Sie nicht einmal zu Wort kommen lassen«, sagte ich und errötete.
  »Die Hauptsache ist, Sie fühlen sich erleichtert. Von mir gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe ebenfalls einen schweren Schicksalsschlag erlitten. Aber es gibt Prüfungen im Leben, die man akzeptieren muss.«
 »Es ist traurig, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Man fühlt sich plötzlich einsam wie nie zuvor.« Verstohlen blickte ich auf meine Armbanduhr. »Es ist Zeit, ich muss los, sonst sehe ich die S-Bahn von hinten. Danke, dass Sie mir zugehört haben.«
  »Sehr gerne«, antwortete er. »Ich wünsche Ihnen ein friedliches, glückliches Weihnachtsfest.« Er drückte meine Hand und eilte davon, bevor ich antworten konnte.

 Zwei Tage später, an Heiligabend, machte ich noch einige Besorgungen. Ich erstand eine leckere Flasche Weißwein und eine Tüte mit Weihnachtsgebäck landete ebenfalls in meinem Einkaufswagen. Ich wollte ein bisschen Normalität schaffen und bildete mir ein, Benjamin wäre bei mir. Mittags marschierte ich zum Friedhof und stellte eine neue Kerze in die Laterne. Auf dem Heimweg pflückte ich einige Tannenzweige und stellte sie in einer Vase auf den Tisch. Davor mehrere Kerzen und ein Bild von Benjamin. Ich richtete den Tisch, wie gewohnt, mit zwei Gedecken. Fertig war mein Weihnachtstisch. Ich bereitete einen Tee zu und daneben stellte ich eine Schale mit Weihnachtsgebäck. Der Einzige, der fehlte, war Benjamin. Einsam würde ich später am Esstisch sitzen und wie gewohnt Kartoffelsalat und Bratfisch essen. Dazu ein Gläschen Weißwein trinken.
  Es begann erneut zu schneien und die Dämmerung schlich heran. In dem Augenblick, als ich die Tasse zum Mund führte, klingelte es an der Haustür. Erstaunt öffnete ich. Davor stand ein Mann im langen dunklen Wintermantel und einer Kapuze auf dem Kopf.
  »Ja bitte?«, fragte ich unsicher.
  »Erkennst du mich denn nicht?«, sagte der Mann und stülpte seine Kapuze herunter. Ich traute meinen Augen nicht. Es war Benjamins Bruder, den ich Jahre nicht gesehen hatte, da er im Ausland an verschiedenen Projekten arbeitete. Er grinste mich verlegen an und überreichte mir eine Schachtel Pralinen.
  »Tobias, welch eine Überraschung. Komm herein, zieh deinen Mantel aus und setzt dich.«
  »Es tut mir aufrichtig leid, dass ich so spät erscheine. Ich habe erst vor zwei Wochen die Nachricht bekommen, dass mein Bruder verstorben ist. Die Verbindung zur Außenwelt war nicht immer möglich. Ich habe alle Projekte abgebrochen und bin hierher gereist.«
  Bevor er sich auf dem Stuhl niederließ, zog er mich in seine Arme und sagte: »Meine arme kleine Schwägerin, es muss grausam für dich sein, ohne ihn. Ich bin jetzt da und werde nicht mehr ins Ausland gehen. Meine Arbeit kann ich hier erledigen. Vorübergehend wohne ich bei einem Freund, bis ich eine Wohnung gefunden habe. Wie gerne hätte ich dir bei der Beerdigung zur Seite gestanden. Aber jetzt, liebe Anja, kümmere ich mich um dich. Du sollst nicht allein sein.«
  Beim Essen erzählte jeder seine Geschichte. Wir tranken Wein und gelegentlich lächelte ich. »Wenn du magst, kannst du heute Nacht hierbleiben. Das Haus ist groß genug und das Gästezimmer kannst du dir aussuchen«, bot ich meinem Schwager an. Er nickte erfreut. Es wurde ein angenehmer Heiligabend.
 

Morgens gab es ein ausgedehntes Frühstück. Danach brach Tobias auf und versprach, mich öfter zu besuchen. Ich war glücklich, ein Familienmitglied in der Nähe zu wissen, das ich gerne mochte, und außerdem meinem Mann sehr ähnlich war. Ich konnte wieder in die Zukunft blicken.

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